Ich sitze in meiner Stube und draußen tobt das Schneegestöber – you better be fucking kidding me!

Die derzeitige Situation schlägt uns doch aufs Gemüt. Meine Freundin und ich haben in dieser Woche wenige Wege gefunden, uns gegenseitig aufzubauen, weil wir beide gleichermaßen frustriert sind. In diesem Fall potenziert sich unsere depressoide Stimmungslage gerade eher, als dass wir sie uns abmildern könnten. Die Arbeit ist zur Zeit nervig, das soziale Leben liegt brach und Gott lacht über die von uns gemachten Pläne und sagt dazu nur „Fuck you“. Bezogen auf unsere Hochzeitspläne sind wir überhaupt nicht motiviert, jetzt alles zu verschieben und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal neu zu planen. Ich weiß gar nicht, woher die Leute, die momentan in einer ähnlichen Situation sind, die Zuversicht nehmen, ihre Hochzeiten zu verschieben und auf „November“ oder „ein Jahr später“ zu verschieben. Wird es dann anders oder besser sein? Keine Ahnung. Ende April waren wir auf eine Hochzeit von Freunden eingeladen, die haben jetzt gerade alles auf Oktober verschoben, sowohl den bürokratischen Akt des Heiratens an sich als auch die Feier. Wir können uns das irgendwie nicht vorstellen. Auf der anderen Seite frustriert die Vorstellung, alles ersatzlos ausfallen zu lassen, keine thematisch passende Hochzeitstorte, kein mit Freude einstudierter Hochzeitstanz, keine Reden von Freunden und Familien, kein üppiges Essen, keine Feierstimmung, keine alten und seit langer Zeit nicht mehr gesehenen Freunde. Ich weiß, es gibt auch Menschen, die WIRKLICHE Probleme haben, trotzdem fühlen sich auch meine kleinen Sorgen für mich gerade sehr real an.

Auf der Arbeit hat das Pensum in der zurückliegenden Woche nun doch ein wenig nachgelassen, so allmählich merken auch wir die zurückgehenden OP-Zahlen. Wobei es weiterhin auch nicht so ist, dass nichts zu tun wäre, nur eben ein bisschen weniger. Wie schon geschildert, laufen die notwendigen Krebs-OPs ja weiter und das ja auch zurecht. In dieser Woche hatten wir zum Beispiel ein Rektumkarzinom von einem unter-50-jährigen Patienten im Einsendegut. Da muss man natürlich schon abwägen, was medizinisch sinnvoller ist: Einen so jungen Patienten an seinem Krebs zu operieren mit der Chance auf Heilung oder einen 80jährigen Pneumonie-Patienten aus dem Heim zu beatmen. Zugespitzt formuliert, denn glücklicherweise sind wir derzeit ja noch nicht in der Situation, solche Entscheidungen treffen zu müssen, da die Anzahl der Corona-Patienten und insbesondere der intensivmedizinisch zu betreuenden Corona-Patienten überschaubar ist.

Ansonsten nervt auf der Arbeit aber auch die vorpanische Grundstimmung und dass es kaum ein anderes Gesprächsthema als das große C gibt. In unseren Frühbesprechungen werden in aller Ausführlichkeit Allgemeinplätze und für jeden nachlesbare Zahlen aus der Presse diskutiert, ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn und Mehrwert. Wir müssen jetzt beim Verlassen unserer Büros, also auf den Fluren und in den Laborbereichen, zudem Mundschutz tragen, was auch immer so ein chirurgischer Mundschutz bringen soll, außer eine psychologische Barriere zu sein. Seitens der Klinikdirektion gibt es Anfragen, nicht speziell an uns, aber an alle medizinischen Fachabteilungen, ob es Freiwillige gibt, die sich für die Versorgung der neuen Corona-Stationen und den erwarteten Patientenansturm melden wollen. Bislang zumindest noch auf freiwilliger Basis. Ich denke, dass das Interesse daran bei uns Pathologen nicht sonderlich groß sein wird, wenngleich wir vielleicht 2 oder 3 Ärzte abstellen werden, je nach Bedarf. Wenn wir irgendwann zwangsrekrutiert werden, dann ist die Kacke auf jeden Fall am dampfen, das ist dann so ein bisschen „Volkssturm 1945“-mäßig, das allerletzte Aufgebot. Wenn ich mich also den Patienten vorstellen werde mit „Guten Tag, meine Name ist Ginger, ich bin Pathologe und heute ihr behandelnder Arzt“, dann wissen die wohl auch Bescheid, welches Stündlein geschlagen hat. Wobei der eigentlich zu erwartende Mangel gar nicht so sehr im ärztlichen Bereich bestehen wird, wie wir aus den Besprechungen des Krisenstabs hören, sondern im pflegerischen Bereich und beim Materialnachschub. Es ist ja gerade die Pflege, die in den zurückliegenden Jahren von den Großkopferten und Geldverteilern und -eintreibern als derart verzichtbar eingestuft wurde, dass sie jetzt personell und von der Quantität vorhandener Qualifikationen vollends am Boden liegt. Ganz schön blöd.

Zur Frustbewältigung und zur Unterstützung des Plattenhändlers meines Vertrauens, habe ich mir in der zurückliegenden Woche jeden Tag online eine CD bestellt. Weil der Laden natürlich auch gerade geschlossen haben muss, haben sie komplett auf Versandhandel umgestellt. Wäre schön, wenn der Laden noch existiert, wenn die Beschränkungen irgendwann wieder aufgehoben werden. Unter Eingabe des Gutscheincodes „corona“ (kein Witz!) kann man zudem gerade die Versandkosten bei dem Laden sparen. Jetzt wäre es umwelttechnisch und logistisch natürlich sinnvoller gewesen, am Ende der Woche ein Gesamtpaket mit allen 5 CDs zu bestellen als jeden Tag eine einzelne CD. Auf der anderen Seite war es aber für mich ein schönes Ritual, jeden Morgen ein bisschen durch das Angebot zu stöbern und mit eine CD nach meinem Geschmack auszusuchen. Außerdem ist mit den kleinen Einzelpaketen gesichert, dass die Bestellungen bei uns in den Briefkasten passen, so dass ich es vermeiden kann, ein verpasstes Paket bei der Postfiliale abholen zu müssen.

Folgende CDs habe ich im Laufe der Woche bestellt.

Am Montag „Wild Wild East“ von Sunny Jain, eine wilde Mischung aus Surfgitarren mit Bollywood- und Dhol-Sounds.

Wild Wild East [Explicit]

Am Dienstag „Classic Appalachian Blues“, eine Sammlung älterer Bluesstücke aus dem breiten musikalischen Spektrum jener Region.

Am Mittwoch „Through the Streets of the City“, ein Album mit Mardi Gras New Orleans Brass Band Musik.

Through the Streets of the City

Am Donnerstag „Calypso Travels“ von Lord Invader, ein Album mit karibischer Calypso-Musik.

Calypso Travels

Und schließlich am Freitag „The Greenwich Village Folk Scene“, eigentlich eine Sammlung aus fünf Einzelalben mit schon sehr angebluester Folkmusik der frühen 60er Jahre aus dem damaligen Epizentrum der Folkszene.

Original Album Series

Ein schönes Sammelsurium für die Playliste „Quarantäne Hits 2020“.

Bei dem schönen, sonnigen und warmen Wetter gestern Nachmittag (wie gesagt, jetzt gerade schneit es…) sammelten sich nach und nach unsere Nachbarn in ihren Gärten. Hier ist ein kleines Neubaugebiet entstanden mit insgesamt 10 Häusern, von denen mittlerweile 5 Häuser bewohnt sind. So haben wir gestern über die Gärten miteinander geschnackt und ich habe festgestellt, wie gut so ein bisschen soziale Interaktion, ein bisschen Input von außen, doch mal wieder tut. Wir sind hier im Dezember als Allererste eingezogen und haben den Rest des Jahres hier alleine verbracht. Es war auch an Silvester ein wenig creepy, so still und dunkel und leise um uns herum. Aber wenn man als erstes da ist, hat es den Vorteil, dass man gelassen beobachten kann, was sich in der Folge dann so nach und nach entwickelt, dass die neu zuziehenden Nachbarn sich einer nach dem anderen vorstellen und man somit nicht in der überfordernden Situation ist, als neu Hinzukommender alle Namen und Gesichter auf einmal kennenlernen zu müssen. Neben uns wohnt ein junges Pärchen, die beide als Erzieher arbeiten. Die haben irgendwie, soweit ich das nach ein paarmal Sehen überhaupt beurteilen kann, einen etwas merkwürdigen Umgang miteinander und pflaumen sich die ganze Zeit an. Vielleicht, hoffentlich liebevoll gemeint. Sie redet gerne und viel und er eher wenig, wenn, dann aber laut und eher ungehobelt. Er hat gestern erzählt, dass er als Frühchen mit einem Gewicht von 800 g 3 Monate zu früh auf die Welt gekommen ist und ich konnte nicht verhindern zu denken „Ja, passt irgendwie.“ 😉 Gegenüber wohnt ein Paar, die gerade im Dezember ein Kind bekommen haben, die sind sehr nett und wirken ziemlich entspannt. Dem Mann konnten wir in den letzten Wochen schön beim Parkettverlegen von unserem Wohnzimmer aus zugucken. ^^ So richtig einziehen werden die erst nächste Woche, bislang haben sie quasi nur Vorarbeiten geleistet und waren an den Wochenenden zugegen.  Deren Umzug mit Umzugsunternehmen soll wohl trotz Corona nächste Woche stattfinden – wir sind gespannt. Außerdem wohnt ein paar Häuser weiter eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Die Frau ist gerade noch in Elternzeit vom zweiten Kind. Sie ist Deutsche und er ist Türke. Bei unserem ersten Aufeinandertreffen vor ein paar Wochen konnte ich mit meinen kleinen VHS-Kurs-Türkischkenntnissen brillieren. Ich fürchte aber, dass wir nicht groß zum Sprechen kommen werden, weil der Mann gefühlt jedes Mal, wenn wir uns sehen, am Handy hängt und telefoniert. Dafür ist seine Frau sehr offen und kontaktfreudig. Wahrscheinlich ist ihr auch ein bisschen langweilig so alleine mit den Kindern mit dem Mann, der die ganze Zeit nur telefoniert. ^^ Und daneben wohnt dann noch ein kinderloses Paar, etwa in meinem Alter, von denen er wohl Raumfahrtingenieur ist und sie irgendwas in Richtung Werbeagentur macht. Die waren im Januar, als wir hier noch alleine gewohnt haben und noch bevor sie eingezogen waren, mal bei uns zu Besuch und wir haben hier anderthalb Stunden sehr nett miteinander gequatscht. Die sind eher ruhig und zurückhaltend und bislang hört und sieht man eher wenig von ihnen, so dass man die meiste Zeit gar nicht weiß, ob sie überhaupt da sind oder nicht.

Ich bin auf jeden Fall mal gespannt, was sich nachbarschaftlich mit der Zeit so entwickeln wird, auch wenn man mal wieder näher als 2 m oder eine Gartenlänge Abstand aufeinander zugehen darf. Und was für Leute in die derzeit noch freien Häuser dann einziehen werden. Man muss sich ja keine Illusionen machen, es wird Leute geben, die man mehr mag und Leute, die man weniger mag, wie halt immer im Leben. Schön wäre nur, wenn alle halbwegs miteinander auskommen und man in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann. Es ist auf jeden Fall bislang ganz schön, dass alle so halbwegs im gleichen Alter und in vergleichbaren Lebensphasen sind, das macht das Kennenlernen schonmal einfacher.

Heute ist dann bei dem Wetter wohl eher keine Gartenparty angesagt. Wir werden uns was Leckeres zu essen kochen, ein bisschen Musik hören und ansonsten höre ich schon Captain Picard wieder rufen. Meine Freundin hat sich  das neue „Animal Crossing“ für die Switch bestellt, ist also auch voll ausgelastet. 😉

CU in Disneyland!

6 Gedanken zu “Triff die Aale!

  1. Wenn man eine Immobilie kauft, ist man noch mehr drauf angewiesen, dass man Nachbarn hat, mit denen man zumindest ordentlich umgehen kann und nicht irgendwelche Kotzbrocken, die einem das Leben im Eigenheim verleiden. Dummerweise weiß man nie vorher, was da auf einen zukommt. Bislang ist bei euch ja alles prima gelaufen. Hoffentlich sind die restlichen neuen Nachbarn auch akzeptabel 🙂 Die Titel der Alben scheinen gute Laune zu versprechen, das ist derzeit echt wichtig, seinen Humor und seine Zuversicht nicht zu verlieren. Ich finde es schon echt befremdlich, wenn hier schon Stimmen laut werden, die Ausgangsbeschränkungen bald wieder aufzuweichen. Was glauben die Leute? Gerade gestern hörte ich einen Virologen sagen, dass die Welle hier erst noch kommen wird, also von Entspannung kann erstmal gar keine Rede sein, im Gegenteil. Macht euch einen gemütlichen Sonntag, Schnee hat doch was 😉

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  2. Da in Bayern ja der Katastrophenfall ausgerufen wurde, sind alle Arbeitszeit- und Gesetzte aktuell nicht gültig. Sie dürfen uns einsetzten wo immer sie wollen und vor allem wann und wie und wo…tun sie bei mir in der Klinik auch…

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  3. Geschichte wiederholt sich immer wieder: nous sommes en guerre – Volkssturm 1945 – und in zehn Jahren werden wir wieder Fußballweltmeister.
    Es sind fürwahr Zeiten und Zustände, die man sich in Mitteleuropa nicht hätte vorstellen können. Zum Beispiel, dass sich Menschen um Klopapier prügeln. So was kannte man bisher höchstens aus der Dritten Welt.
    Deinen ersten Satz „draußen tobt das Schneegestöber“ halte ich allerdings für etwas übertrieben. Da sind mal drei Schneeflocken gefallen, und im Augenblick scheint wieder die Sonne.

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